Martel schenkt ein

Aus der Vergangenheit

Jan Martel | 26.02.2016 | Lesezeit 2 Min. Aus der Vergangenheit

In den Schweizer Bergen gibt es ein Hotel, das seinesgleichen sucht. Seit über hundert Jahren thront es auf einem Hügel am Silsersee. Wenn man durch die Eingangstüre geht, fühlt man sich wie in einer Zeitmaschine. Nach wenigen Sekunden befindet man sich Jahrzehnte in die Vergangenheit zurückversetzt; Architektur, Stil der Möbel und das gesamte Ambiente. Märchenhaft, faszinierend und absolut einmalig.

Vor wenigen Tagen durfte ich an diesem bezaubernden Ort über himmlische Weine referieren. Solche Weine passen in dieses Haus. Ganz bestimmt. Um Mitternacht leerten sich die Hallen und die Hotelgäste gingen zu Bett. Richtig alleine in der wunderschönen Lobby fühlt man sich trotzdem nie. Denn neben den guten Hausgeistern, die man dort immer spürt, beschützt der Nachportier Adriaan aufmerksam und mit Charme das ganze Haus. Aus Erfahrung wusste ich, dass ich mich bestimmt nicht unbemerkt an ihm vorbei in die dunkle Nacht schleichen kann. Und so war es auch, er erwartete mich am Eingang, und wie immer in solchen Situationen, wird man mit einem Morgenstern-Gedicht verabschiedet. Für mich hat er das folgende ausgesucht:

Verzicht, das ist der Wein, das ist die Waffe.
Von diesem Safte wirst du stark und still,
und wenn dein Wunsch sich nicht ergeben will,
sieh zu, dass dir dies Schwert den Frieden schaffe.

Mit diesem Wein im Kruge lebst du gut.
Mit dieser Waffe wirst du mächtig sein.
Verzicht – so sticht ein Stahl ins Herz hinein.
Verzicht – so löst den Krampf der Rebe Blut.
(Morgenstern, Melancholie, 1906)

Auf dem Heimweg dachte ich an die verkosteten Weine und an Adriaan. Den Mann, der dafür sorgt, dass man selbst beim Verlassen dieses Hotels am Waldrand stets auf Überraschungen gefasst sein kann.

Ausprobieren: Ein edler Süsswein passt nicht nur zum Dessert. Versuchen Sie es einmal zum Hauptgang, z.B. zu geschmortem Geflügel. Nicht alltäglich, aber bestimmt einen Versuch wert.