Martel schenkt ein

Der World-Wine-Web-Pionier

Stephan Ziegler | 08.12.2020 | Lesezeit 8 Min. Der World-Wine-Web-Pionier

Jan Martel übernahm mit 32 Jahren die Leitung von Martel AG in St.Gallen und führt seither das 144-jährige Familienunternehmen in fünfter Generation. Die Martel AG, mit aktuell drei Standorten und 45 Mitarbeitern, ist eine der ältesten Weinhandlungen der Schweiz. «Martel am Bahnhof» in der St.Galler Innenstadt zählt zu den schöns­ten Weinhandlungen der Ostschweiz; «Martel am Bellevue» in Zürich geht gar im Barguide 2020 als Top-Weinbar der Schweiz als Siegerin hervor. Doch wie geht es dem Weinhändler aktuell, mit Corona?

Jan Martel, anfangs Oktober haben die NZZ-Bellevue­ Leser Ihren «Californio Syrah Hyde Vineyard 2013» zu ihrem Syrah-Favoriten gekürt. Wie hoch in der Gunst der Weinliebhaber liegen Syrah-Weine allgemein?
Syrah ist eine der faszinierendsten Rotweinsorten der Welt. Winzer wie Jean-Louis Chave oder eben Hyde de Villaine er­zeugen langlebige Spitzenweine mit Struktur und einmaliger Aromatik. Solche Weine sind bei Weinfreaks sehr beliebt. Ob­wohl sich Syrah in den letzten Jahren weltweit unter die fünf wichtigsten Sorten gemausert hat, erstaunt es, dass die Sorte von vielen Konsumenten immer noch nicht entdeckt wurde.

«Da die Onlineverkäufe fast explodierten, konnten wir den Verkaufsausfall in der Gastronomie nahezu kompensieren.»

Und welche Rebsorte ist im Moment der absolute Renner?
Pinot Noir aus dem Burgund und der Schweiz sowie Nebbiolo aus dem Piemont sind bestimmt die heissesten Anwärter, wenn es um Spezialitäten geht. Trotzdem bleiben Cabernet Sauvignon, Merlot, Tempranillo und Chardonnay die Spitzenreiter.

Und davon welcher Wein?
Das ist sehr unterschiedlich. Viele Konsumenten suchen eher die fülligen, mächtigen Weine aus heissen Regionen. Gleichzeitig stellen wir fest, dass auch immer mehr Personen auf der Suche nach Eleganz und eigenständigen Charakter sind. Und dann landet man zwangsläufig bei den grossen Burgundern.

Sie waren Mitte der 1990er Jahre die erste Weinhandlung Europas, die einen Onlineshop implementiert hatte. Können Sie sich noch an die erste Bestellung erinnern?
Selbstverständlich! Das Internet war noch komplett unbe­kannt, als wir online gingen. Martel betrachtete das Projekt als Experiment. Wir hatten keine Erwartungen, und so wa­ren wir sehr überrascht, als die ersten Bestellungen nicht aus der Schweiz, sondern von IT-Freaks aus Norwegen, Spanien und England eintrafen. Ihnen ging es nicht um das Produkt an sich, sondern viel mehr darum, zu erfahren, was da eigentlich passiert und ob auch ausgeliefert wird. Ein Jahr später, Goog­le war noch nicht geboren, listete Yahoo als Marktleader für Internet-Recherchen erst 49 Wein-Webshops weltweit auf. Eine rührend winzige Anzahl aus heutiger Sicht. Wer nämlich heute bei Google «Wein Webshop» eintippt, erhält in 0.49 Sekunden ungefähr 760 000 Einträge.

Was gab damals den Ausschlag, Ihre Weine auch online zu verkaufen?
Von Verkaufen konnte noch keine Rede sein. Viel mehr han­delte es sich um Neugier und Zufall. Mein Schwager war da­mals an der HSG tätig und suchte nach einem Produkt, das er in einem Online-Shop abbilden konnte. Seine Schwester und ich, heute sind wir verheiratet, vermittelten zur Weinhandlung. Onkel und Vater waren bereit für dieses Experiment, speziell da mein Onkel damals eine grosse ICT-Begeisterung hatte.

Hat sich diese Strategie bewährt, sprich bestellen heute die Menschen ihre Weine vorzugsweise online?
Mit Strategie hatte das damals wenig zu tun. Der Pioniergeist hat uns angesteckt und erst Jahre später entwickelten wir eine eigentliche Online-Strategie. Schrittweise wurde dieser Verkaufskanal professionalisiert und weiterentwickelt. Heute haben wir eine klare Strategie und arbeiten an der Zielerreichung. Und das hat sich sehr gelohnt, waren wir doch gerade in diesem Jahr mit Lockdown und anderen Einschränkungen bereit für das veränderte Einkaufsverhalten. Mittelfristig betrachten wir diesen Kanal als ausgezeichnet Ergänzung zu Ladenverkäufen, klassischen Papiermailings sowie Beratungen direkt beim Gastronomiekunden. Wir gehen davon aus, dass Weinliebhaber auch künftig an Degustationen und in unsere Ladengeschäfte kommen. Nur so können sie die Weine verkosten und das Einkaufserlebnis geniessen.

Ich kann mir vorstellen, dass wegen Corona die Bestel­lungen aus der Gastronomie stark zurückgegangen sind. Haben private Käufe dieses Minus aufgewogen?
Die Bestellungen aus der Gastronomie sind nicht nur stark zu­rückgegangen, sondern zeitweise gänzlich ausgeblieben. Da wir mehr als 50 Prozent unserer Weine schweizweit an Res­taurants und Hotels liefern, war dies ein harter Schlag. Da half der plötzlich viel grössere Wunsch in der Bevölkerung nach Weinkonsum im Homeoffice natürlich sehr. Private Käufer haben dieses Jahr auch deutlich hochwertigere Weine ein­gekauft. Man wollte sich etwas gönnen. Und da zeitweise die Verkäufe über den Onlinekanal fast explodierten, konnten wir den Verkaufsausfall in der Gastronomie zu einem grossen Teil kompensieren.

«Weingenuss ist keine exakte Wissenschaft.»

Wie sieht das Verhältnis Online-, Laden- und Prospektkauf bei Privaten heute aus – Sie setzen ja nach wie vor auch auf Postmailings?
Wir sind überzeugt, dass es langfristig sehr wichtig ist, auf verschiedene Verkaufskanäle zu setzen. Damit können wir das Risiko besser verteilen. Der Fokus auf Online nimmt stetig zu und ist etwa für einen Viertel der Verkäufe an Privatkunden zuständig. Rund 70 Prozent verteilen sich auf Ladengeschäfte, klassische Papiermailings und direkte Kundenanfragen.

Und im B-to-B-Bereich?
Die Gastronomie, also die anderen 50 Prozent, bestellt über den Betreuer, per Email oder telefonisch. Immer mehr auch mit automatisierten Bestellformularen – abgestimmt auf die eigene Weinkarte.

Bei vielen Weinen, etwa Bordeaux oder Burgunder, übersteigt die Nachfrage das Angebot deutlich. Wie teilen Sie Raritäten zu?
Grundsätzlich möchten wir allen Interessenten solcher Wein-Preziosen die Möglichkeit für einen Kauf bieten. Aufgrund der von Jahr zu Jahr steigenden Nachfrage nach diesen Raritäten ist das leider nicht immer möglich. Um möglichst viele echte Weinliebhaber zu erreichen, verteilen wir die Wei­ne in Kleinmengen und fokussieren uns auf Kunden, die die Weine für den eigenen Genuss kaufen möchten.

Diese stellen Sie also nicht online?
Online sind die Weine sichtbar, aber nicht bestellbar. Inter­essenten können uns ihre Wünsche angeben und wir versu­chen, diese dann zu erfüllen. Die geschieht individuell und nicht nach dem Motto «first come first served».

Mir wurde einst gesagt, dass ein guter Wein nicht mehr als 20 Franken kosten müsse. Stimmen Sie dieser Aussage zu?
Es gibt viele gute Weine für weniger als 20 Franken. Diese be­reiten uns allen viel Freude. Die Spitzenweine von den gross­en Terroirs der Welt kosten aber zwangsläufig mehr, da nur schon die Bodenpreise Dimensionen angenommen haben wie an der Bahnhofstrasse in Zürich oder an der Fifth Avenue in New York. Gute Weine müssen somit nicht unter 20 Fran­ken kosten, sie können aber.

Hand aufs Herz: Kann ein Wein für 2000 Franken wirklich hundert Mal besser sein als einer für 20?
Technisch betrachtet sicherlich nicht. Weingenuss ist aber auch keine exakte Wissenschaft. Nennen Sie mir die Mass­einheit für Qualität? Hat ein Kunstwerk von Pablo Picasso für Sie zehn Millionen Franken mehr wert als ein Bild Ihrer fünf­jährigen Tochter? Schlussendlich geht es um Angebot und Nachfrage. Weine in dieser Preisklasse bestechen mit gross­er Eleganz, Tiefe, Spannung und Erhabenheit. Diese Weine können emotionale Momente kreieren. Magische Erlebnisse, die man ein Leben lang nicht mehr vergisst. Solche Schlüssel­momente im Leben haben ihren Preis.

Wein wird zunehmend auch als Kapitalanlage genutzt. Das verknappt das Angebot für Geniesser zusätzlich, spielt Ihnen als Händler aber in die Hände. Auf welcher Seite stehen Sie?
Wir sehen uns als Vermittler von Genuss und grosser Wein­kultur. Wenn das Produkt von passionierter Arbeit eines Winzerjahres nicht seiner eigentlichen Bestimmung, sprich dem Trinken und Geniessen, zugeführt wird, dann bedauere ich das sehr. Somit stehen wir klar auf der Seite der Geniesser. Wir lieben unser Produkt zu sehr, um alles dem möglichen Gewinn unterzuordnen.

Zum Schluss: Martel ist erstmals Sponsor des WTT Young Leader Awards, der am 8. Dezember über die Bühne gehen wird. Weshalb unterstützen Sie den Anlass?
Ausserordentliche Leistungen von Studenten haben mich schon immer fasziniert und begeistert. Zudem haben auch wir solchen Projekten viel zu verdanken – Stichwort Online-Handel! Peter Müller hat es mit seinen Argumenten geschickt geschafft, uns von diesem Engagement zu überzeugen. Ich bin mit Freude dabei. Auch im Beirat.

Und werden Sie ihn persönlich oder online verfolgen?
Aufgrund der aktuellen Gesundheitskrise werde ich – wie alle anderen Gäste auch – den Anlass online verfolgen. Und dies selbstverständlich mit einem guten Glas Wein in der Hand.

Bild: www.leaderdigital.ch/Marlies Thurnheer