Schweizer Weingüter mit Heimvorteil

Die 4. Ausgabe des VINUM Weinführers Schweiz ist neu auf dem Markt. Das Werk erscheint alle drei Jahre und bietet einen aktuellen Überblick über die hochwertigen Schweizer Weine. VINUM zeichnet die 200 besten Weingüter aus, macht pro Weingut zwei Empfehlungen und kürt Sieger in verschiedenen Kategorien. Autor des Weinführers ist Thomas Vaterlaus. Wir trafen den langjährigen Chefredaktor von VINUM im Martel am Bellevue in Zürich.
Thomas Vaterlaus, Sie sagen: «Noch nie haben so viele Schweizer Winzer so gute Weine auf die Flasche gebracht wie heute». Wie war es um den Schweizer Wein bestellt, als Sie vor 30 Jahren zu VINUM stiessen?
Zu dieser Zeit war die Schweiz ein klares Weissweinland – und der Chasselas der König unter den Weinen. In der Deutschschweiz dominierte der Riesling-Silvaner.
Und wie schmeckte der Schweizer Wein Mitte der 90er-Jahre?
Es gab schon damals gute bis sehr gute Weine. Aber das waren Ausnahmen. Das Niveau insgesamt war wirklich viel schlechter als heute. Es dominierte das Mittelmass. Das Ziel der Winzerausbildung bestand vor allem darin, die damals noch häufigen Weinfehler zu vermeiden. Der Fokus der meisten Weingüter lag also nicht auf Terroirausdruck oder Eleganz, sondern darauf, ein sauberes und gesundes Lebensmittel zu produzieren.
Wie haben sie das geschafft?
Viel Sauberkeit im Keller, Maischeerwärmung, Stahltank anstelle von Holz, starke Filtration. Technisch einwandfrei. Aber die Weine haben dadurch viel von ihrem besonderen Ausdruck verloren.
Welches waren die rühmlichen Ausnahmen?
Hans Ulrich Kesselring vom Thurgauer Schlossgut Bachtobel war vorbildlich, ebenso Schwarzenbach Weinbau vom Zürichsee. Rouvinez bewies schon früh, dass man auch mit Assemblagen Ausserordentliches kreieren kann. Der Chasselas (Dézaley) Chemin de Fer Grand Cru des Maison Massy im Lavaux war für mich in jungen Jahren eine Offenbarung.
Und das Tessin?
Lange Zeit war der Merlot in der Südschweiz ein unbedeutender Grotto-Wein. Erst als Zuzüger aus der Deutschschweiz wie Werner Stucky oder Christian Zündel begannen, den Merlot nach Bordeaux-Manier auszubauen, wurde Qualität erreicht. Mit dieser «Neuen Deutschschweizer Welle» begann der Aufschwung der Tessiner Weine. Heute gelingen da nicht nur Merlot, sondern auch Cabernet Franc oder Neuzüchtungen wie Marselan vorzüglich.
Eine Erfolgsgeschichte der letzten Jahrzehnte ist auch die Bündner Herrschaft. Was haben die Verantwortlichen dort richtig gemacht?
Winzer wie Thomas Donatsch, Martha und Daniel Gantenbein oder Georg Fromm haben den Weg geebnet. Ihre Reisen in die grossen Weinbaugebiete der Welt öffneten den Horizont. Und sie wagten etwas: Donatsch zum Beispiel pflanzte unerschrocken den damals in Graubünden verbotenen Chardonnay an. Die junge Winzergeneration setzte auf Qualität statt Quantität, arbeitete mit den klassischen Methoden des Burgunds und schuf so immer bessere Weine. Das brachte eine ungeahnte Dynamik in die Bündner Szene. Auch die Preispolitik, zum Beispiel von Gantenbein, hat geholfen, das Prestige der Herrschaft zu steigern. Nur was etwas kostet, ist auch etwas wert. Natürlich trugen auch die natürlichen Voraussetzungen in der Bündner Herrschaft zum Erfolg bei. Erstklassige Lagen, gute Böden – und dank dem Föhn ein super Klima. Heute ist es in der Herrschaft vielleicht schon etwas zu warm.
Wie beurteilen Sie den St. Galler Wein?
Die Betriebe stehen im Schatten der Bündner Herrschaft. Die Wahrnehmung ist geringer. Dabei sind die St.Galler Steillagen eigentlich spektakulärer. Und es gibt auch St.Galler Vorzeigeweine die gesamtschweizerisch top sind. Aber es gibt sicher noch viel Potenzial.

Sie schauen von Zürich aus auf die Schweiz. Kommt da die Westschweiz nicht zu kurz?
Im VINUM Weinguide Schweiz versuche ich, jedem Kanton gerecht zu werden. Wir wählen die 200 wichtigsten Weinbaubetriebe des Landes aus. Es ist klar, dass die grössten Weinbaukantone Wallis und Waadt auch die meisten Güter im Buch stellen. Von der Deutschschweiz aus gesehen nehmen wir manchmal nur verzögert war, dass auch dort Ausserordentliches geleistet wird. In Proportion zur Rebfläche ist aber doch die Deutschschweiz etwas stärker vertreten als die anderen Landesteile.
Was zeichnet die besten Winzerinnen und Winzer aus, gibt es einen gemeinsamen Nenner?
Spitzenproduzentinnen und -produzenten sind sicher Individualisten, sie gehen ihren Weg, lassen sich nicht von Moden oder dem Zeitgeist beirren. Ein gutes Beispiel dafür ist die Walliserin Marie-Thérèse Chappaz. Ich behaupte: Je besser das Weingut, desto weniger wird auf Marktgeschichten Rücksicht genommen. Verlangt der Markt mehr Farbe oder mehr Restsüsse? Spitzenbetriebe ignorieren das und ziehen konsequent ihr Ding durch.
Die besten Schweizer Weingüter kennen keine Absatzprobleme. Im Gegenteil: Sie sind immer ausverkauft. Was bedeutet das?
Grundsätzlich ist das erfreulich. Allerdings stelle ich fest, dass einige Winzerinnen und Winzer in ihrem Erfolg etwas vernachlässigen, auf modernen Kanälen sichtbar zu werden oder zu bleiben. Das kann gefährlich sein.
Eine grosse Herausforderung für die Winzerinnen und Winzer weltweit stellt der Klimawandel dar. Was bedeutet er für die Schweiz?
Generell profitieren die Schweizer Weinbaubetriebe. Wegen der Berge können wir in höhere Lagen ausweichen – ein Privileg. Allerdings ist dafür eine politische Liberalisierung nötig, damit die Weinbauern auch weiter oben anpflanzen dürfen. Sicher nehmen mit dem Klimawandel auch die pilzwiderstandsfähigen Sorten zu. Diese sind in Regenphasen nicht nur fäulnisresistenter, sondern bewahren in Hitzesommern auch die Säure besser. Und umweltschonender sind sie sowieso, da weniger Behandlungen nötig sind.
Sie sind also zuversichtlich für den Schweizer Wein in den nächsten 30 Jahren?
Ja, es macht wirklich Freude zu sehen, wie sich Vieles zum Positiven verändert hat und noch verändern wird. 20 Prozent der schweizerischen Rebfläche werden heute schon kontrolliert biologisch bewirtschaftet, damit beweisen die Schweizer Winzerinnen und Winzer, dass sie zum Handeln fähig sind. Und sie haben auf dem Schweizer Markt etwas, was anderen fehlt: einen klaren Heimvorteil. Diesen gilt es zu nutzen.