Bordeaux Jahrgangsbericht 2022
2022 ist ein ausgezeichneter Bordeaux-Jahrgang. Es war heiss und trocken. Trotzdem zeichnen sich die 2022er durch ihre Frische aus. Die Weinlese fand zwei bis drei Wochen früher statt als sonst. Philippe Gallusser vom Martel-Einkaufsteam ist zurück von den Primeur-Verkostungen des neuen Jahrgangs in Bordeaux – mit vielen Eindrücken und Favoriten.
«Ich bin berührt von diesen Weltklasse-Weinen»
Philippe, wie schätzt du den Jahrgang 2022 generell ein?
Trotz Hitze und Trockenheit produzierten die Winzer 2022 Weine von ausserordentlich hoher Qualität. Die Weinfarbe ist erkennbar dunkler als sonst. Ich degustierte in Bordeaux etliche Weine des Jahrgangs 2022, die alles überragen. Insgesamt ist es ein ausgezeichneter Jahrgang vor allem bei den Rotweinen. Wobei man immer sagen muss: Die Degustation der Primeur-Weine ist stets eine Momentaufnahme. Man erkennt zum Zeitpunkt der Verkostung, ob der Wein die Anlagen dafür hat, grossartig zu werden.
Was gefällt dir an den roten Bordeaux 2022 besonders?
Es gibt eine Vielzahl grossartiger Rotweine im 2022, und zwar auf beiden Seiten der Gironde. Ich liebe die überraschende Frische, gepaart mit unglaublich mächtiger, aristokratischer Struktur. In diesen Weinen hat es von allem viel, jedoch perfekt ausbalanciert. Diese Bordeaux sind vielschichtig, zeigen eine ausgesprochen hohe Gerbstoffqualität und einen langen Abgang. Dies bei einem überraschend moderaten Alkoholgehalt von meist 13.5 bis 14.5 Volumenprozent. Ein Wert, der in den letzten 20 Jahren schon fast üblich ist in dieser Weingegend.
Was zeichnet die besten Weine aus?
Die Balance entscheidet zwischen sehr gut und ausgezeichnet. Bei einem perfekten Wein stimmt einfach alles: Tiefe, Spannung, Komplexität. Von solchen Qualitätsspitzen wird man noch lange reden. Ich bin berührt von diesen Weltklasse-Weinen.
Zeigt sich der Jahrgang einheitlich?
Nein, 2022 ist nicht homogen. Es gibt Weine, bei denen die Frische fehlt und welche sehr reif oder gar überreif wirken. Bei manchen Weinen ist der Alkohol im Gaumen deutlich spürbar. Bei anderen sind die Gerbstoffe ziemlich grobkörnig und adstringierend. Zu viel Extraktion konnte gerade in diesem Jahr einen negativen Einfluss haben.
Was führte 2022 vor allem zu Qualitätsunterschieden?
Erstens: Es kommt 2022 stark auf das Terroir an. Nur in den besten Lagen entstanden wirklich grosse Weine, rechts wie links der Gironde. Besonders bevorzugt waren die Plateaus von Pomerol und St-Emilion sowie die besten Haut-Médoc-Appellationen wie Pauillac und St-Julien. Etwas überraschend für ein solch heiss-trockenes Jahr gehört auch Margaux dazu. Was man zweitens auch sagen kann: 2022 ist ein grosses Cabernet-Jahr. Cabernet Franc wie auch Cabernet Sauvignon reiften perfekt aus. Die Merlot-Traube tendiert bei diesen Bedingungen teilweise zu Überreife. Drittens war es ein Jahrgang, wo das Können der Winzer gefragt war und ihre Erfahrung im Umgang mit Hitze und Trockenheit. Nur wem eine gute Laubarbeit gelang und wer den richtigen Erntezeitpunkt erwischte, konnte allerbestes Traubengut einbringen.
Was war im Witterungslauf besonders?
Anfang April hatten die Winzer in einigen Gebieten mit Spätfrost zu kämpfen. Im Juni sorgte Hagel in St-Estèphe und in anderen Regionen für zum Teil starke Einbussen. Zwischen Frühsommer und der Ernte waren die Temperaturen durchs Band überdurchschnittlich hoch. Zum Glück gab es im Juni und im August rettenden Regen. Sehr willkommen waren die relativ kühlen Nachttemperaturen im Spätsommer und Herbst.
Und wo gibt es Einbussen bei der Qualität?
Für besten Wein brauchte es 2022 beste Böden. Gerade in einem von Sonne geprägten Jahr zeigen zweitklassige Böden in vielen Fällen wenig Potenzial.
Wie sieht es beim Bordeaux-Weisswein 2022 aus?
Bei überaus hohen Temperaturen einen Top-Weisswein zu machen, ist schwierig. Der richtige Erntezeitpunkt beim Weisswein war neben vielen weiteren Faktoren ausschlaggebend.

Wer die Trauben zu früh erntete, wurde mit grünlichen Noten und Unreife im Wein bestraft. Wer zu spät erntete, brachte Weine mit zu wenig Säure ein. Es gibt jedoch löbliche Ausnahmen. Was auffällt: Diese Weine sind zwar reiffruchtig, sie verfügen jedoch auch über Frische, Spannung und Tiefgang – was wie gesagt leider eher selten ist bei diesem Jahrgang.
Und wie gerieten die Süssweine im Hitzejahr 2022?
Die Süssweine gelangen unterschiedlich gut. Da es sehr trocken war, stellte sich in vielen Rebgärten lange keine Botrytis (Edelfäule) ein. Wer auf Nummer sicher gehen wollte, las seine Trauben vor dem Regen im Frühherbst und erhielt wenig komplexe Weine mit wenig Säure, mastig und schwerfällig. Erst dank des Regens gab es den erhofften Botrytis-Befall. Dadurch stieg die Qualität der Weine. Spät geerntete Süssweine zeichnen sich aus durch eine intensive Botrytis-Aromatik, einen hohen Restzuckeranteil und eine frische Säure.
Wo setzt Martel den Fokus bei der Bordeaux-Selektion?
Wir machen uns vor Ort im Bordelais ein eigenes Bild des Jahrgangs, besuchen grosse Verkostungen und viele Weingüter. So degustieren wir pro Jahrgang einige hundert Primeur-Weine. Kurz gesagt: Wir gehen hin, verkosten und bilden uns unsere eigene Meinung. Unser Portfolio richtet sich nach unseren Favoriten des Jahrgangs. Zudem pflegen wir langjährige Beziehungen zu unseren Fokus-Weingütern. Wir orientieren uns stets an der Qualität. Auch die grossen Namen des aktuellen Jahrgangs müssen uns überzeugen.
Sind in diesem weltbekannten Weingebiet Entdeckungen überhaupt noch möglich?
Erstaunlicherweise ja. Das Bordeaux ist sehr dynamisch. Die Weingüter entwickeln sich und zeigen eine beeindruckende Steigerung der Qualität. Zum Beispiel Claire und Gonzague Lurton mit ihren Bio-Weingütern im Margaux und Pauillac. Ein Geheimtipp mit unglaublichem Preis-Leistungs-Verhältnis ist Lespault-Martillac, das kleine Schwester-Weingut der Domaine de Chevalier.
Was sagt der Jahrgang 2022 über Bordeaux aus?
Bordeaux lebt. 2022 bewiesen die Winzer, dass sie inzwischen auch mit Hitze und Trockenheit umzugehen wissen. Das war 2003, aber teilweise auch 2018 noch nicht der Fall. Auch zeigt der Jahrgang, dass sich die besten Terroirs in einem extremen Jahr bewähren und dort auch unter herausfordernden Umständen Weltklasse-Wein produziert werden kann.
Wie steht es um die Preise?
Generell sind die Besitzer der Châteaux wie auch die Medien begeistert vom Jahrgang 2022. Die hohe Qualität spricht für höhere Preise, auch die Inflation ist ein preistreibender Faktor. Die unsichere Weltlage könnte die Preise etwas dämpfen. Die meisten Beobachter gehen jedoch davon aus, dass die Grands Crus Classés 2022 teurer sein werden als im weniger prestigeträchtigen 2021.
Die Martel-Favoriten
Wir führen hier die Châteaux in deren Appellation unterteilt und gemäss alphabetischer Reihenfolge auf. Eine höhere oder tiefere Position eines Weinguts auf dieser Liste lässt keinen Rückschluss auf unsere Bewertung oder eine Rangfolge zu.
Weltklasse
Lafite Rothschild, Pauillac «majestätische Eleganz in Perfektion»
Pichon-Lalande, Pauillac «überbordende Sinnlichkeit»
Léoville Barton, St-Julien «noble Kühle, einer der grössten Leoville Barton»
Brane-Cantenac, Margaux «grandioser Brane mit wunderbar seidigen Tanninen»
Margaux, Margaux «Länge, Kraft, Kühle und Präzision»
Palmer, Margaux
Rauzan-Ségla, Margaux
Haut-Bailly, Pessac-Léognan «Spannung und Tiefe, die schon jetzt unglaublich Spass macht»
Château Lafleur, Pomerol «Diese Weine sind von einem anderen Stern»
Petit-Village, Pomerol «unser Geheimtipp, auf Top-Terroir, grosse Qualitätssteigerung»
Canon, St-Émilion
Cheval Blanc, St-Émilion «vollkommener Cheval Blanc mit Kraft, Saftigkeit und Präzision»
Tertre Rôteboeuf, St-Émilion «aristokratisch, engmaschig, unglaubliche Frische, grossartig!»
Hervorragend
Calon Ségur, St-Estèphe «Trotz hohem Alkohol und Hagel»
Carruades de Lafite, Pauillac
Duhart-Milon Rothschild, Pauillac «So gut war dieser Wein noch nie»
Grand-Puy-Lacoste, Pauillac
Pontet-Canet, Pauillac «unglaublich dicht und extreme Power, bleibt trotzdem ausgewogen»
Beychevelle, St-Julien
Ducru-Beaucaillou, St-Julien «was für eine Komplexität, schon jetzt!»
Gruaud Larose, St-Julien
Léoville Poyferré, St-Julien
Palmer Alter Ego, Margaux
Pavillon rouge du Ch. Margaux (2. Wein Margaux) «Eleganz pur»
Domaine de Chevalier rouge, Pessac-Léognan
Haut-Brion, Graves
La Mission Haut-Brion, Graves «2022 für mich sogar ein bisschen besser als Haut-Brion»
Ausone, St-Émilion
Canon-la-Gaffelière, St-Émilion
Chapelle d’Ausone, St-Émilion
Figeac, St-Émilion «zeigt, dass er sich die Auszeichnung Premier Grand Cru Classé A redlich verdient hat»
La Mondotte, St-Émilion
Grossartige Best Buys
Le Marquis de Calon (2. Wein von Calon Ségur), St-Estèphe
Phélan Ségur, St-Estèphe
Haut-Bages Libéral, Pauillac
Langoa Barton, St-Julien
Le Petit Ducru (3. Wein von Ducru-Beaucaillou), St-Julien
Baron de Brane (2. Wein von Brane-Cantenac), Margaux
Durfort-Vivens, Margaux
Ferrière, Margaux
Chasse-Spleen, Moulis
Maucaillou, Moulis
Poujeaux, Moulis
La Lagune, Haut-Médoc
Lespault-Martillac rouge, Pessac-Léognan
Beauregard, Pomerol
Chambrun, Lalande de Pomerol
Domaine de l’A, Côtes de Castillon «mit aussergewöhnlicher Frische»
Domaine de Cambes (Roc de Cambes), Côtes de Bourg
Highlights Weissweine
Pavillon blanc du Château Margaux, Margaux
Domaine de Chevalier, Pessac-Léognan «grossartige Struktur, Frische und Saftigkeit»
Lespault-Martillac blanc, Pessac-Léognan
Highlights Süssweine
Doisy-Védrines, Barsac «Jahr für Jahr ganz gross»
Guiraud, Sauternes «viel Frische und Botrytis-Aromatik»
Suduiraut, Sauternes «betörende, fein ziselierte Nase mit 190g/l Restzucker!»